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Reichsideologie und andere Verschwörungserzählungen

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Aufgepasst: Demokratie in Gefahr

Reichsideologie und andere Verschwörungserzählungen

Schild Republik Freies Deutschland - Hoheitsgebiet

© Tim Hoppe/ GARP

 

Seit Wolfgang P. im Oktober 2016 im mittelfränkischen Georgensgmünd tödliche Schüsse auf einen Polizisten des SEK abfeuerte sind die sogenannten "Reichsbürger" stärker in den Fokus der Öffentlichkeit und der staatlichen Sicherheitsbehörden gerückt. Lange Zeit waren sie fatalerweise als "Spinner" verlacht und unterschätzt worden.

Wer sind eigentlich diese "Reichsbürger"?

Immer wieder ist von "Reichsbürgern" zu hören oder zu lesen, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre Gesetze nicht anerkennen, sich Fantasiedokumente erstellen und denken, dass sie in einem "Deutschen Reich" leben. Das alles trifft auf viele Personen aus diesem Milieu zu, aber nicht auf alle. Denn "die Reichsbürger" gibt es eigentlich gar nicht. Vielmehr gibt es eine Fülle an unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen. Jan Rathje unterscheidet daher vier Untergruppen, die im reichsideologischen Milieu zu finden sind, und zwar Rechtsextreme seit 1945, "Reichsbürger", Selbstverwalter_innen und Souveränist_innen. Trotz aller Unterschiede gibt es auch eine große Gemeinsamkeit zwischen diesen Gruppen. Alle vier gehen davon aus, dass die Bundesrepublik kein legitimer oder souveräner Staat ist, sondern fremdbestimmt wird.

"Reichsbürger" glauben, das Deutsche Reich bestehe fort, denn die Bundesrepublik Deutschland (BRD) sei kein rechtmäßiger Staat. Welches Deutsche Reich fortbestehe, beziehungsweise in welchen Grenzen, unterscheidet sich von Gruppe zu Gruppe innerhalb des Milieus. Auch wenn sich die meisten eher die Weimarer Verfassung oder das Kaiserreich als das "Dritte Reich" zurückwünschen, weist ihre politische Idee doch deutliche Überschneidungen zum klassischen Rechtsextremismus auf, schließlich ist diese Idee aus ihm erwachsen.

Selbstverwalter_innen dagegen geht es in erster Linie darum, sich von der BRD loszusagen und ihren eigenen Staat auszurufen, in dem sie der Souverän sind. Sie legen, im Gegensatz zu "Reichsbürgern", keinen übergeordneten Wert auf ein fortbestehendes "Deutsches Reich". Aber auch sie zweifeln die Rechtmäßigkeit der Bundesrepublik und ihrer Gesetze an. Deswegen gründen sie eigene Kleinststaaten.

Souveränist_innen geht es nicht um die Gründung eigener Staaten oder ein Fortbestehen des "Deutschen Reiches". Sie konzentrieren sich zumeist darauf, die Öffentlichkeit über das aufzuklären, was sie für die Wahrheit halten – beispielsweise, dass Deutschland nicht über einen Friedensvertrag verfüge, und somit weiterhin von einer fremden Macht besetzt sei. So tönt es unter anderem von Mitgliedern rechtspopulistischer Parteien und Verbände.

Reichsideologie im ländlichen Raum

In ländlichen, als "strukturschwach" geltenden Regionen lassen sich verstärkt Personen und Gruppen finden, die sich antidemokratischen, verschwörungsideologischen Konzepten zuwenden. In solchen Gebieten kann schnell der Eindruck entstehen, von den städtischen Zentren abgeschnitten zu sein. Damit einher geht unter Umständen das Gefühl, auch von den dort diskutierten politischen Entscheidungen ausgeschlossen zu werden. So entwickelt sich in ländlichen Regionen, vor allem, wenn die dortige Infrastruktur tatsächlich staatlich vernachlässigt wird, der Eindruck, gesellschaftlich abgehängt zu sein.

Eine zunehmend populäre Verschwörungserzählung, die insbesondere jenseits der großen Städte gedeiht, ist jene der "Reichsbürger". Menschen, die sich vom sprichwörtlichen "großen Ganzen" ausgeschlossen fühlen, finden in ihnen einen scheinbaren Ausweg. Wenn der Staat, indem sie leben, nicht für sie da ist, dann schaffen sie sich eben ihren eigenen. Bei vielen Personen aus dem Milieu der "Reichsbürger" gibt es lebensgeschichtliche Hinweise auf derlei Enttäuschungen, die ihrem Zugang zur Reichsideologie vorausgegangen sind. Dazu kommt, wie Dirk Wilking in "'Reichsbürger'. Ein Handbuch" darlegt, in ländlichen Gebieten bei vielen Ansässigen verstärkt das Gefühl, von staatlichen Entscheidungen abhängig zu sein, jedoch nicht aktiv an Entscheidungsprozessen teilhaben zu dürfen. Insbesondere "Reichsbürger" und Selbstverwalter_innen schlagen in eben diese Kerbe der Enttäuschung vom Staat, indem sie sich mit den rechtlichen Grundlagen des Staates auseinandersetzen und diese sogar anfechten. Sie zeigen damit ihrem möglicherweise ebenfalls unzufriedenen Umfeld, dass man auch als einfache_r Bürger_in etwas gegen Staat und Bürokratie ausrichten könne. Bei milieuinternen Stammtischrunden oder in speziellen Seminaren tauschen sich "Reichsbürger" et. al. über ihre Erfahrungen mit deutschen Behörden aus und bringen einander bei, wie man mit diesen umzugehen habe. Häufig geht es dabei ganz konkret darum, keine Steuern oder GEZ-Gebühren zahlen zu wollen oder die schuldenbedingte Pfändung des eigenen Hauses oder ähnliches zu verhindern. Das Tragische ist, dass sich die Menschen, die derlei Seminare besuchen, tatsächlich in existenziellen Nöten befinden und auf Hilfe angewiesen sind.

Zunächst trägt das, was sie dort lernen, als Form zivilen Ungehorsams, auch Früchte. Sie schaffen es meist, Gerichtsvollzieher oder Finanzbeamte zunächst zu überrumpeln und die jeweiligen Amtshandlungen aufzuschieben. Letztendlich sitzt der Staat jedoch immer am längeren Hebel und die existenziellen Nöte verschlimmern sich rapide. Denn die vermeintliche Hilfe, die ihnen angeboten wird, basiert nicht auf einem rationalen Umgang mit ihrer Lebenslage, der mit rechtsstaatlichen Mitteln arbeitet.

Antisemitismus als Kernideologie der "Reichsbürger"

Reichsideologie und weitere Verschwörungserzählungen wirken besonders anziehend auf Personen, die sich in ihrem Leben unwohl fühlen. Vielfach kombiniert sich diese Unzufriedenheit mit einem geringen Selbstwertgefühl. Dies kann aus verschiedenen Gründen der Fall sein. Viele der prominenteren "Reichsbürger" oder Selbstverwalter_innen beispielsweise berichten von einschneidenden Erlebnissen in ihrem Lebenslauf – dazu gehören mitunter der Verlust der Arbeit beziehungsweise der finanziellen Sicherheit. Meist ist mit diesen Ereignissen eine Enttäuschung in den Staat und seine Organe und Behörden verbunden, da diese keine Hilfe geleistet oder die Situation sogar verursacht haben – so erscheint es zumindest den Betroffenen. Aus diesem Gefühl der Hilflosigkeit und bisweilen auch Wertlosigkeit erwächst bei einigen der Wunsch, sich gänzlich neu zu orientieren. Sie sind in ihrer Identität stark verunsichert und auf der Suche nach eindeutigen Vorgaben – und klar auszumachenden Schuldigen. Verschwörungsideologien stellen genau dies zur Verfügung: Ihr Leiden und das der ganzen Welt bekommt einen Sinn und sie einen Platz auf der Seite der betrogenen "Guten" im Kampf gegen die betrügenden "Bösen".

In Bezug auf die Bundesrepublik schließt an diese Erzählung zunehmend die Vorstellung eines sogenannten "großen Austausches" an, im Zuge dessen „das deutsche Volk” durch Migrant_innen ersetzt werden solle. Als Verantwortliche dafür wird eine mächtige Elite ausgemacht. Diese vermeintlichen „Strippenzieher“ sollen einen „Völkermord an den Deutschen“ planen. Doch wer sind diese mysteriösen Mächtigen? Die Antwort auf diese Frage wird häufig nicht offen ausgedrückt. Die Rede ist dann von den "Rothschilds", den "Bankern von der Ostküste", dem "Finanzkapital", "dem Zionismus", den "Börsen und Banken" und vielem mehr. Gemeint sind jedoch in der Regel dieselben: "Die Juden". Da jedoch in Deutschland und anderen Staaten offener Antisemitismus nicht akzeptiert wird oder unter Strafe steht, werden innerhalb des Milieus die oben genannten Codes und Chiffren genutzt, um sich vor dem Vorwurf zu schützen und trotzdem die eigenen antisemitischen Ressentiments ausdrücken zu können.

Für weitere Informationen:

Amadeu Antonio Stiftung: "Wir sind wieder da - Die 'Reichsbürger'. Überzeugungen, Gefahren und Handlungsstrategien", Berlin 2014. /w/files/pdfs/reichsbuerger_web.pdf (PDF-Dokument, 1.2 MB)

Rathje, Jan: Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017.

Speit, Andreas (Hg.): Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2017. Wilking, Dirk (Hg.): "Reichsbürger". Ein Handbuch (Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung), Potsdam 2015. http://www.verfassungsschutz.brandenburg.de/media_fast/4055/Reichsbuerger%20Ein%20Handbuch.pdf (PDF-Dokument)

 

 

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