Alle unter einem Dach

© Susanne Müller, Everswinkel
Ferienprogramme für Schüler*innen, Malstunden für Menschen mit Behinderung, Sprachkurse für Geflüchtete: Das „Haus der Generationen“ in der 9.500-Seelen-Gemeinde Everswinkel ist ein Vorzeigemodell für bürgerschaftliches Engagement und gelungene Integration.
Von Kai Schnier
Von außen wirkt der Backsteinbau, der im Herzen der nordrhein-westfälischen Gemeinde Everswinkel steht, nicht gerade einladend. Das metallverkleidete Dach, die leicht verwitterte Fassade, die engmaschigen kleinen Fenster: Eine alte Turnhalle würde man hinter diesen Mauern vielleicht vermuten oder eine Reihe von Verwaltungsbüros, die im 200 Meter entfernten Rathaus keinen Platz mehr gefunden haben; alles, nur nicht den Dreh- und Angelpunkt des Everswinkeler Gemeinschaftslebens. Und doch: Hier, in diesem unscheinbaren Gebäude, laufen all jene unsichtbaren Fäden zusammen, die die 9.500-Seelen-Gemeinde zusammenhalten.
„Wir nennen es das Haus der Generationen“, verrät Thomas Wetterkamp, der drinnen in einem der vielen Räume hin und hergeht, Aktenordner verschiebt und versucht, sich gegen die Papierberge auf seinem Schreibtisch zu wehren: „Es geht hier darum, Alt und Jung an einem Ort zusammenzubringen – und darum, allen Everswinkelern, die ehrenamtlich tätig sind, eine Anlaufstelle zu bieten.“ Wetterkamp ist gelernter Sozialarbeiter und hat das Konzept des Hauses der Generationen (HdG) mitentwickelt. Bis 2008 trafen sich dort, wo er heute als Ehrenamtskoordinator sein Büro aufgeschlagen hat, unter dem Label „Haus der offenen Tür“ noch ausschließlich Jugendliche zum Billard und Tischfußball spielen. „Als wir allerding gemerkt haben, dass uns in Zukunft schon allein demografisch gesehen die Besucher ausgehen würden, mussten wir umdenken“, verrät Wetterkamp.
Vom Haus der Jugend zum Haus der Generationen
Die Lösung des Problems: Statt den Jugendtreff zu schließen, öffnete man seine Türen einfach noch weiter. Mit Kommunengeldern wurde das 1977 errichtete Gebäude barrierefrei und behindertengerecht renoviert. Seitdem ist das Haus der Generationen ein Treffpunkt für alle Altersgruppen und beheimatet eine bunte Mischung verschiedenster Ehrenamtsvereine und Freizeitgruppen: In einem modernen Unterrichtsraum erhalten Ganztagsschüler*innen Nachhilfe von pensionierten Lehrkräften, nebenan treffen sich die sogenannten RuF-Senior*innen („Rad- und Freizeit“) zu ihrem allwöchentlichen Gemeinschaftsfrühstück und in der Kunstwerkstatt im Keller malen und töpfern die Mitglieder des Hauses St. Vitus, einer Betreuungseinrichtung für Menschen mit Behinderung. Im Haus der Generationen arbeiten sie alle unter einem Dach und – im Idealfall – auch miteinander. „Die Idee ist, dass die verschiedenen Gruppen die Einrichtung nicht nur nutzen, sondern durch die räumliche Nähe auch zusammenwachsen und Synergien entwickeln“, erklärt Thomas Wetterkamp.
Und diese Synergien lassen sich im Haus der Generationen bereits bestens beobachten. Fehlt der Jugend des lokalen Naturschutzbundes, die sich hier hin und wieder trifft, das handwerkliche Know-how für ein Projekt, etwa für den Bau von Nistkästen, dann genügt ein kurzer Besuch bei den Anti-Rostler*innen, einer Gruppe von technisch versierten Senior*innen, und Hilfe ist garantiert. Und platzt einem RuF’ler bei einem Ausflug der Fahrradreifen, dann findet sich im Untergeschoss des Gebäudes eine Reparaturwerkstatt, in der eine Ehrenamtlerin erklärt, wie man ihn am besten flicken oder austauschen kann. Für jede Frage lässt sich im Haus der Generationen jemand finden, der eine passende Antwort hat.
Integration leben: Geflüchtete im Haus der Generationen
Das weiß auch Maria Mettelem, die seit 2015 hier aktiv ist und einer der größten im Haus aktiven Vereinigungen angehört: der Flüchtlingsinitiative Everswinkel. Als 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mehr als 200 Geflüchtete, vornehmlich aus Syrien, dem Irak und Eritrea, in der Gemeinde ankamen, entschlossen sie und viele andere Anwohner*innen sich dazu, aktiv zu werden. Auf der Suche nach Räumlichkeiten fanden sie bei Thomas Wetterkamp ein offenes Ohr – und schlugen so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen konnte die Initiative im Haus der Generationen ihre Organisationstreffen abhalten und zum anderen bot man auch den Geflüchteten gleich eine Anlaufstelle im Ort. „Für die Menschen, die in den Übergangswohnheimen festsaßen und nur Duldungsstatus hatten, war das Haus eine tolle Sache“, erklärt Maria Mettelem: „Der Austausch zwischen den Neuankömmlingen und den Everswinkelern wäre nie so direkt zustande gekommen, wenn man sich nicht hier auf den Fluren oder bei Veranstaltungen kennengelernt hätte.“
Als damals einziges Gebäude mit einem offenen Wireless-Hotspot diente das Haus der Generationen vielen Geflüchteten kurz nach ihrer Ankunft vor allem als Tor in die Heimat. Überall saßen junge Männer, die versuchten, per WhatsApp ihre Familien in der Heimat zu kontaktieren – und wenn es mal kein Netz gab, dann vertrieb man sie sich die Zeit eben damit, zusammen mit der Everswinkeler Jugend im Gemeinschaftsraum zu kickern. „Der Kontakt zwischen Anwohnern und Geflüchteten kam so ganz natürlich zustande“, erinnert sich Thomas Wetterkamp: „Klar gab es auch mal jemanden, der zu mir gesagt hat ‚Warum lungern die hier rum?‘, aber alles in allem hat die Integration der Geflüchteten in die Gemeinschaft toll funktioniert.“ Dazu habe vor allem auch die entschiedene Unterstützung der Verwaltung beigetragen: „Der Bürgermeister ist sofort an die Öffentlichkeit gegangen und hat mitgeteilt, dass Everswinkel alles dafür tun muss, die Leute hier willkommen zu heißen“, erklärt Wetterkamp. Diese politische Rückendeckung sei für seine Arbeit ein großer Segen gewesen.
Breite Angebotspalette verbindet neue Akteure und langjährig Aktive
Und so bietet die Flüchtlingsinitiative im Haus der Generationen bis heute verschiedenste Angebote für Geflüchtete an. Maria Mettelem, die früher als Sport- und Religionslehrerin arbeitete, gibt Deutschkurse, und andere Ehrenamtlichen sorgen dafür, dass Neuankömmlinge zusammen mit Anwohner*innen Ausflüge machen, zum Beispiel in den nahegelegenen Münsteraner Zoo. Einige der Senior*innen, die im Haus der Generationen ein- und ausgehen, haben im Rahmen der Initiative „Alt für Jung-Patenschaften“ sogar die Verantwortung dafür übernommen, einzelne Geflüchtete direkt zu unterstützen. Auch Maria Mettelem betreut seit geraumer Zeit eine ganze Familie, die aus Afghanistan gekommen ist. „Am Anfang wollte ich nur Sprachunterricht geben“, sagt sie: „Aber dann stehen die Leute da und brauchen auch anderweitig Hilfe, und dann macht man das einfach.“
Ohnehin sei die Flüchtlingsarbeit im Haus der Generationen, so wie alle anderen hier ansässigen Initiativen auch, keine Einbahnstraße. "Die Leute, die sich hier ehrenamtlich engagieren, erfahren auch selbst eine ungemeine Bereicherung von den Menschen, denen sie helfen - speziell von denjenigen aus anderen Kulturen und Altersgruppen", sagt Mettelem. Und zudem mache sich die hartnäckige Zusammenarbeit irgendwann auch bezahlt. Bereits heute sprechen einige der Syrerinnen, die sie unterrichtet hat, so gut Deutsch, dass sie im Haus der Generationen mitarbeiten können und selbst die Hausaufgabenbetreuung für junge Schüler*innen übernommen haben .
Nah dran – das Geheimrezept der Netzwerkstelle
Das Geheimrezept des Hauses der Generation ist für Thomas Wetterkamp dabei vor allem die enge Verzahnung von Haupt- und Ehrenämtern in Everswinkel. „Ich sitze sozusagen als Netzwerker an der Schnittstelle zwischen engagierten Bürgern, die sich in die Gemeinde einbringen wollen, und der Politik, die die Mittel zur Verfügung stellen kann“, erklärt er. Von der Stadtverwaltung bezahlt zu werden, aber gleichzeitig die Freiheit zu haben, im Haus der Generationen den direkten Kontakt zu den Menschen zu halten, sei das allerwichtigste – und eine zentrale Strukturformel, die andernorts oftmals ignoriert werde. „Nur so können wir herausfinden, wo es hakt und wie wir die Fördermittel besser einsetzen können“, weiß der 50-Jährige. So habe man etwa erst kürzlich im Zuge einer Sprachstandserhebung unter Geflüchteten in Everswinkel herausgefunden, dass viele weibliche Geflüchtete, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angebotenen Sprachkurse nicht wahrgenommen hätten: „In Gesprächen mit den Frauen haben wir dann herausgefunden, dass es daran lag, dass viele ihre Kinder betreuen mussten und niemanden hatten, der auf sie aufpassen konnte.“ Ein offensichtliches Problem, das der Verwaltung aber womöglich niemals aufgefallen wäre.
Dass ein Ort wie das Haus der Generationen auf diese Art und Weise für eine ganze Gemeinde als Verständigungs- und Integrationsmotor fungieren kann, ist mittlerweile auch jenseits von Everswinkel angekommen. Nicht zuletzt deshalb wurde die Gemeinde in diesem Jahr im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Zusammenleben Hand in Hand – Kommunen gestalten“ mit dem Integrationspreis des Innenministeriums ausgezeichnet. Und nicht nur das: Dank eines bewilligten Förderantrags flossen kürzlich insgesamt 239.000 Euro an Everswinkel, um das Haus der Generationen weiter auszubauen und zu renovieren. Von diesem Geld soll nun unter anderem eine neue Gemeinschaftsküche gebaut werden, in der Jung und Alt, Senior*innen und Teenager, Geflüchtete und Ehrenamtliche zusammen kochen können. „Nachdem wir schon so viele Menschen zusammen an einen Tisch gebracht haben, sehen wir es jetzt als unsere Aufgabe, das Engagement in der Gemeinde hochzuhalten,“ sagt Thomas Wetterkamp: „Und dafür wollen wir den Menschen auch in Zukunft so viel Raum und so viele Möglichkeiten bieten, wie wir nur können.“
Tipps & Learning
- Eine enge Verzahnung von Ehren- und Hauptämtern kann dazu beitragen, Angebote besser auf die Interessen und Bedürfnisse der Bürger*innen abzustimmen. Fördermittel können so womöglich effektiver eingesetzt werden.
- Politische Rückendeckung für das ehrenamtliche Engagement und eine klare Positionierung lokaler Verwaltungen kann die Arbeit erleichtern – insbesondere in kontroversen Feldern wie der Flüchtlingshilfe.
- Ehrenamtliche Organisationen nicht nur zum Ideenaustausch anzuregen, sondern sie auch räumlich zusammenzuführen, kann auf allen Seiten unerschlossene Potenziale wecken.
- Die Schaffung von öffentlichen Räumen, in denen sich Bürger*innen, Neuzugezogene und Geflüchtete begegnen können, kann viel zur Integration beitragen.
- Speziell vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann es sich für Gemeinden lohnen, vermehrt intergenerative Angebote zu fördern und insbesondere Möglichkeiten für ein ehrenamtliches Engagement von Senior*innen zu schaffen.
Kommunale Anlaufstellen für Bürgerschaftliches Engagement sind innerhalb der Verwaltung angesiedelte Fachstellen mit dem Ziel, Engagement zu initiieren oder zu unterstützen. Obwohl Teil der Verwaltung, wirken sie an der Schnittstelle zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik und damit weit über die eigene Organisation hinaus.
Zu ihren Aufgaben gehört es, die lokalen Aktivitäten zur Engagement-Förderung zu bündeln, Projekte anzuregen und zu begleiten, Infrastruktur bereitzustellen, Vernetzung und Zusammenarbeit örtlicher Akteure zu unterstützen sowie den Austausch innerhalb der Verwaltung und den politischen Gremien möglich zu machen. Wir stellen hier das Beispiel Everswinkel vor.