Nationenparlament

Inhaltsverzeichnis
- Das Projekt in Kürze
- Wie stärkt das Projekt die Gemeinschaft vor Ort?
- Wer beteiligt sich am Projekt?
- Welche Ergebnisse wurden erzielt?
- Infokasten
- Wer hat das Projekt initiiert?
- Ist das Vorhaben nachhaltig angelegt?
- Ist das Projekt übertragbar? Wenn ja, unter welchen Bedingungen?
- Was können Sie anderen mit auf den Weg geben?
- Kontakt
Das Projekt in Kürze
Das "Nationenparlament" in Markt Schwaben (Bayern) wurde gegründet, um den Flüchtlingen in der Gemeinschaftsunterkunft eine Stimme zu geben sowie die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den Flüchtlingen und den Helferkreisen zu erleichtern.
Zur Ausgangslage: Für die Helfer*innen war es in der Halle mit ca. 230 Flüchtlingen äußerst schwierig, die Übersicht über die angebotene Hilfe zu behalten und wichtige Informationen über Bedürfnisse zu bekommen. Zudem mussten wir oft dieselben Informationen hundertfach wiederholen. Manchmal wurden unsere Angebote nicht angenommen oder Reaktionen waren für uns nicht einzuordnen.
Somit entstand die Idee zu einem "Nationenparlament". Es sollte aus mindestens zwei Vertreter*innen einer Nation bestehen. Die Art der Wahl wurde nicht vorgegeben. Kleinere Nationen schlossen sich zusammen. Das "Nationenparlament" tagte in der Regel alle zwei Wochen und es gab einen regen Diskussionsaustausch. Die Flüchtlinge waren froh, endlich eine Stimme zu haben und hatten an uns die Erwartung, die teilweise unmenschlichen Bedingungen in der Halle zu beheben (z. B. vier WCs für 220 Menschen, davon waren zwei geschlossen).
Es ist uns zwar gelungen, die Beschwerden und Ideen an die Verantwortlichen zu richten, entscheiden aber konnten wir nicht. Schnell lernten wir die Grenzen unserer direkten Einflussnahme kennen. Da wir dieselben Dinge vertraten, wurden wir als Sprachrohr, z. B. zum Landratsamt, anerkannt. Viele Diskussionen gingen auch in Richtung von öffentlichen Aktionen und Pressearbeit. Unser Fazit lautet: Mithilfe des "Nationenparlamentes" wurde fortan nicht mehr über die Flüchtlinge, sondern mit ihnen gesprochen.
Wie stärkt das Projekt die Gemeinschaft vor Ort?
Die Flüchtlinge bekommen ein Gesicht und eine Stimme. Wer die jeweiligen Ansprechpartner*innen sind, ist klar kommuniziert. Integrationsleistungen erfolgen nachhaltiger und zielgerichteter. Ehrenamtliche Hilfe bekommt ein Feedback durch die Flüchtlinge und verhindert Missverständnisse und Frust. Probleme mit der Nachbarschaft werden schneller gelöst. Drohende Konflikte untereinander können frühzeitig erkannt und Raum zur Diskussion gegeben werden. Das Vertrauen untereinander wuchs und die tägliche Arbeit wurde leichter. Sprecher*innen informierten uns und vertraten die gemeinsam besprochenen Dinge. Wir konnten ebenso Informationen besser verbreiten und haben auf Angebote Feedback erhalten. Die Sprecher*innen wurden immer mehr in die Arbeit integriert. In der Beratungszeit übernahmen sie Aufgaben und lernten so das System in Deutschland kennen.

Wer beteiligt sich am Projekt?
Der Aktivkreis Markt Schwaben umfasst mehrere Aktivkreise, die als Verein von der Gemeinde angestoßen wurden. Eine formale Mitgliedschaft ist keine Voraussetzung, um mitzuarbeiten. Zwei Gemeinderäte wurden damit beauftragt, die Flüchtlingshilfe durch den Aktivkreis zu koordinieren. Die Aktivkreise sind in ihrer Struktur autonom agierende Arbeitsgemeinschaften mit Sprecher*innen, die eng miteinander kooperieren. Andere Gemeinden wollten die Idee übernehmen. Aktuell gibt es in folgenden Städten "Nationenparlamente", die auf unsere Idee zurückgehen: Poing (München) und Wolfsburg.
Welche Ergebnisse wurden erzielt?
Auch weitere Gemeinden folgten unserem Beispiel und gründeten "Nationenparlamente". Die Bundeszentrale für politische Bildung hat diesbezüglich eine Anfrage an den Aktivkreis gestellt und das französische Staatsradio war bei einer Sprechersitzung sogar schon einmal dabei.
Die zuständige Polizei Poing hat mehrfach in öffentlichen Sitzungen bestätigt, dass die Polizeieinsätze in der Turnhalle Markt Schwaben am geringsten im Landkreis waren.
Infokasten
Projektzeitraum: Oktober 2015 - Juni 2016 (Räumung der Turnhalle als Unterkunft)
Wo wurde das Projekt umgesetzt?: Markt Schwaben im Landkreis Ebersberg, ca. 14.000 Einwohner_innen, damals 300 – 350 Flüchtlinge
Zielgruppe: Flüchtlinge, die in der Turnhalle in Markt Schwaben unter sehr schwierigen Umständen untergebracht waren. Bis zu 230 Männer aus Afghanistan, Eritrea, Iran, Senegal, Somalia, Mali, Nigeria, Sierra Leone, Syrien, Pakistan und Albanien
(Projekt)Partner*innen: Gemeinde Markt Schwaben
(Bisherige)Teilnehmendenzahl: Ca. 20 Nationensprecher*innen und ca. zehn AG-Leiter*innen und Helfer*innen aus dem Helferkreis. Erweitert ca. 230 Flüchtlinge und ca. 50 Helfer*innen
Benötigte Ressourcen: Ein ruhiger, großer Raum mit Sitzgelegenheiten zum Tagen, gängige Moderationstechniken – wie Flipchart, Stifte etc. –, Medien zum täglichen Kommunizieren (WhatsApp), Infoflyer
Wer hat das Projekt initiiert?
Die Idee hatte Judith Seibt (AG Sprecherin Alltag) bereits vor einiger Zeit. Allerdings konnte sie die Idee lange nicht konkretisieren. Als Thomas Krahe zum Aktivkreis dazu stieß, änderte sich dies. Er hat während der Balkankriege diese Idee in den dortigen Flüchtlingslagern kennengelernt und damit gearbeitet. Somit brachte er praktische Erfahrungen mit. Als beide aufeinander trafen, bekam die Idee Schwung und erste Grundkonzepte wurden erarbeitet. Es ist wichtig, dass den Flüchtlingen vertraute Personen das Projekt gestartet haben, denn die Personen, die auch die Tagesthemen besprechen, sollten mit allen Problemen der Örtlichkeit vertraut sein. Nur so haben sie sich auch richtig, z. B. den Behörden gegenüber, vertreten gefühlt.
Ist das Vorhaben nachhaltig angelegt?
Natürlich, denn durch das Geben einer Stimme erleben Flüchtlinge die Möglichkeit, gehört zu werden sowie Wünsche, Beschwerden und Ideen zu äußern. Wir erlebten bei nicht wenigen Flüchtlingen eine deutliche Verbesserung des Selbstbewusstseins, eine Motivation zum schnelleren Deutschlernen und das Verständnis der deutschen Herangehensweise an Probleme und prinzipielles Interesse am deutschen System. Auch die Gruppendynamik innerhalb der Nationen beruhigte sich und hitzige Diskussionen, die z. B. aufgrund von Frustration aufkamen, wurden von den Nationensprecher*innen souverän aufgelöst.
Ist das Projekt übertragbar? Wenn ja, unter welchen Bedingungen?
Ja, ist es. Voraussetzung ist, dass den Betroffenen nur der Rahmen vorgegeben wird, sie den Inhalt aber selbst ausfüllen. Es braucht klare Ansprechpartner*innen. Man benötigt in jedem Fall Gruppen, die vertreten werden, egal ob sich diese durch eine Nationenzugehörigkeit oder andere Merkmale zusammenfinden. Die Bestimmung der Sprecher*innen muss Sache der Betroffenen bleiben und kann kulturell sehr unterschiedlich sein. Von der hierarchischen Autorität über Kompetenz durch Sprachkenntnis oder Bildung bis hin zu gewählten Vertreter*innen war alles vorhanden. Die Aufgabe der Sprecher*innen und der Helfer*innen soll gemeinsam im Dialog erarbeitet werden. Es braucht eine Struktur für die Treffen. Darüber hinaus sind Visualisierung und niedergeschriebene Entscheidungen wichtig. Ebenso Tagesordnungen, damit alle zum Zuge kommen.
Was können Sie anderen mit auf den Weg geben?
Frust der Flüchtlinge annehmen und aushalten, auch wenn man selbst nicht verantwortlich für die Schwierigkeiten ist. Wir haben erlebt, wie Vertrauen die Gemeinschaft stärkt, bei Helfer*innen genauso wie bei Flüchtlingen. Negative Informationen wurden viel besser aufgenommen.
Kontakt
Judith Seibt
Markt Schwaben
E-Mail: judithseibt@gmail.com
Thomas Krahe
85567 Grafing
E-Mail: tkrahe@gmx.de